Interview

Interview für die Broschüre "Blindspotting": Sibylle Feucht - Christine de la Garenne, 2016
 
SF:     Deine Einzelausstellung Blindspotting begrüßt die BesucherInnen mit einer tickenden Sanduhr, fragilen Gläser-Objekten und einem etwas älteren, gefundenen Schnappschuss aus einer Striptease-Bar. Die Gläser und die Striptease-Tänzerin scheinen sich in ihren fragilen Posen, dem Zeigen und dem betrachtet werden zu ähneln – so wie wir als AusstellungsbesucherInnen mit den männlichen Besuchern der besagten Bar zu korrespondieren scheinen...

CdlG:    Das ist richtig. In meiner künstlerischen Arbeit geht es grundsätzlich um das Beobachten. Es gibt unterschiedliche Arten, seine Lebenswelt zu sehen: man kann zunächst die Oberfläche der Dinge wahrnehmen, also das, was einem die Welt ständig entgegen wirft. Hier könnte man seine Betrachtung bereits beenden und zu neuen Bildern übergehen, denn es gibt ja so viel zu sehen.
Mich interessiert die Oberfläche von Gegenständen, weil sie zum Hinsehen verführt, gleichzeitig aber den Übergang zu einer weiteren Ebene markiert. In der Videoarbeit „AEON“ spiegelt das Glas der Stundenuhr den Atelierraum wider. Die Spiegelung fängt den Blick und lässt ihn auf der Videoinstallation verweilen. Die Manipulationen von Bild und Geschwindigkeit sind subtil und erschließen sich beim längeren Betrachten: der Sand, der gewöhnlich das Verstreichen der Zeit misst, rieselt nicht kontinuierlich von oben nach unten, sondern in unterschiedlicher Geschwindigkeit auch in die Gegenrichtung. Er scheint sich unabhängig von Raum, Zeit und Erdanziehungskraft zu bewegen. Die unumkehrbare und gleichförmige Ausrichtung der Zeit wird in „AEON“ aufgebrochen, das Ticken ist endlos.
Das Sichtbare bietet neben dem Offensichtlichen noch andere Perspektiven, die ich durch Kontext und Kombination der Objekte öffnen möchte. Auch dadurch, dass ich Bilder zeige, die dem Betrachter ein Versprechen geben, das nicht eingelöst wird. Die Stripperin spreizt ihre Beine und doch sind die Spiegelungen auf der Fotografie präsenter als das offensichtlich Verlockende.

SF:    Im straßenseitigen Ausstellungsraum sind Spiegelungen und Lichtreflexe allgegenwärtig, ob in der Sanduhr der Videoarbeit „AEON“, in den auf Sockeln inszenierten Gläsern oder der gefundenen Fotografie aus einer Striptease-Bar. Man könnte teilweise sogar davon sprechen, dass sich die Spiegelungen gegenseitig spiegeln und re-inszenieren. 

CdlG: Spiegelungen interessieren mich aufgrund ihrer Flüchtigkeit und des ihnen innewohnenden irritierenden Potentials. Zum einen führt die Verdoppelung des Sichtbaren zur einer Versicherung und Bestätigung gegenüber der Umwelt. Zum anderen erzeugt die Wiederholung ein verwirrendes Spiel mit der Illusion.
Mit Wechsel des Standpunktes ergibt sich eine neue Perspektive der Raumsituation, der Ausschnitt ist flexibel und verändert sich mit der Bewegung des Betrachters. Dieser begegnet sich selbst in der Arbeit und beobachtet sich bei der Betrachtung des Werkes. Formal führen die Spiegelungen die einzelnen Arbeiten auch zusammen; durch das gegenseitige Spiegeln und  Re- Inszenieren durchdringen sie sich, Schein und Sein werden eins. Je mehr Reflexionen den Raum abzubilden versuchen, desto undurchdringlicher und instabiler wird er. Die Spiegelungen auf den Dingen beinhalten zudem die Option des „sich Entziehens“. Sie verstellen den Blick auf das Sichtbare, indem sie die Oberflächen zurückwerfen und eine Blickbarriere schaffen. In der Fotoarbeit SHARON1980 lässt sich das z.B. anhand der Lichtreflexe auf der Bühne festmachen, die die Tänzerin „überlagern“. Es entstehen „blinde Flecken“ ohne visuelle Information. Ein Freiraum sozusagen.
Die Objekte meiner Installationen spiegeln die Umwelt nicht zuverlässig nach den gängigen Parametern wieder, ihr Abbild ist nicht symmetrisch zur Wirklichkeit. Ich öffne damit einen imaginären Raum, der eine artifizielle Umgebung präsentiert. Man sieht sich beim Betrachten der Ausstellung mit Erwartungen konfrontiert, die auf gewohnten Seh- Erfahrungen beruhen, aber nicht den vorgefundenen Gegebenheiten entsprechen. Die gezeigte Bildwelt erscheint dadurch ungewohnt und verselbständigt sich. Der eigene Blick wird verzerrt und unzuverlässig wiedergegeben und wirft die Frage auf, wie wirklich die Wirklichkeit denn tatsächlich ist.

SF:    Die spiegelnden, reflektierenden Oberflächen führen ja zu einer vollständigen oder zumindest teilweisen Auslöschung des eigentlichen Trägers und existieren nur durch die verzerrte Verdopplung der umgebenden Welt – sie entziehen sich, wie Du es formulierst. Im Medium Fotografie kann diese Auslöschung so radikal sein, dass sie jegliche Bildinformation zerstört, so wie von Dir beschrieben im Fall von SHARON1980.
Die Verzerrung des Blicks, wie Du es nennst, scheint seit je her eine große Faszination aus zu üben – für Künstler wie für die BetrachterInnen und ich frage mich, ob unser Sehen erst zur Wahrnehmung wird, durch die Existenz der Differenz zwischen vermeintlicher Wirklichkeit und fast identischem Abbild sowie deren Wechselwirkungen, so wie zum Beispiel in Jan van Eyck’s Arnolfini-Hochzeit von 1434 oder Kapoor’s Cloud Gate von 2006.
In wie fern können Deine fotografischen Arbeiten im hinteren Ausstellungsraum ebenfalls als eine Art Spiegelung bzw. Reflexion bezeichnet werden?

CdlG:    Stellen ohne vorgegebene oder eindeutige Bildinformation interessieren mich und tauchen in all meinen Arbeiten auf. Sie schaffen Platz für das, was gar nicht zu sehen ist, was im Verborgenen bleibt. Die „Leerstellen“ nutze ich bewusst als bildgebendes Element, indem ich ein Vorwissen seitens des Betrachters voraussetze. Vielleicht schaffen die „Löcher“ in ihrer Funktion als Platzhalter ein Gerüst für individuelle Fantasien des Betrachters, der schon weiß was er sehen will. Vielleicht sind es aber auch die Leerstellen, die sich abhängig von individuellen Erfahrungen füllen und im besten Fall ein Fenster zu neuen Erfahrungen öffnen. An diesen Gedanken knüpft auch die Fotoreihe „LOST AND FOUND“ an. Die Fotokollektion zeigt unspektakuläre Gegenstände, die ich in meiner Umgebung finde. Aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, untersuche ich die Bedeutung oder Wahrheit dieser Objekte jenseits von Nützlichkeit und Gebrauchswert. Für mich spiegeln diese Alltagsgegenstände die Gesellschaft unserer Zeit wider. Ich zeige einen Ausschnitt der Realität, die sich aus Fundstücken zusammensetzt. Abfolge und Auswahl der Fotos sind dabei flexibel. Ich biete dem Betrachter ein loses Angebot an Fragmenten, die er, ausgehend von seiner subjektiven Weltsicht, zusammenfügen kann.

SF:    Mir ist aufgefallen, dass die meisten BesucherInnen der Ausstellung die von Dir angebotenen Fotografien sofort mit eigenen Bildern und Geschichten verknüpfen oder auch mit eigenen gefundenen Fotografien und sich die daraus ergebenden Gespräche sehr schnell auf eine sehr persönliche Ebene führen. Manche suchen sich auch ihr persönliches Lieblingsbild und das scheinbar eindeutige  „LOST AND FOUND“ wird mehrdeutig.

CdlG: Das freut mich! Die dargestellten Gegenstände stehen für mich exemplarisch für die menschliche Gesellschaft. Mir gefällt es, dass ausgehend von fremden Fotografien eigene Bilder reaktiviert werden, weil die Grenze zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis verschwimmt.

SF:    Zum Ende unseres Gesprächs möchte ich gerne noch einen Blick auf die Titel Deiner Arbeiten werfen, die teilweise ironisch daher kommen wie bei „Traurige Trinker“, beschreibend wie bei „Glasauge“ oder „SHARON1980“ oder mysteriös wie bei „ARA“ und „RAR“.

CdlG:    Bei der Auswahl der Titel meiner Arbeiten gehe ich ähnlich intuitiv vor wie bei der Motivwahl. Die Vorlage für die Fotoarbeit „SHARON1980“ ist ein kleines Analogfoto, das im Internet zu ersteigern war. Der Titel für meine Arbeit war auf der Rückseite bereits handschriftlich notiert.
Bei „Glasauge“ und bei „ARA“ und „RAR“ sollte sich die Idee der Spiegelung auch im Titel wiederfinden.

Zum Abschluss ein Cocktail:
„Le perroquet“
1 Dash Crème de Menthe
3 cl Pastis
8 cl Wasser
Eiswürfel